Vorwort

IV
VORWORT
Bachs Violinsoli BWV 1001–1006 sind in ei-
ner besonders schönen Reinschrift seiner
Hand überliefert, die heute in der Staatsbi-
bliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin,
Mus. Ms. Bach P 967, verwahrt wird. Das
eigenhändige Titelblatt lautet: Sei Solo / â /
Violino / senza / Basso / accompagnato / Li-
bro primo / da / Joh. Seb. Bach. / ao. 1720.
Da ein Druck dieser Werke zu Lebzeiten
Bachs nicht erschien, hat die autographe
Reinschrift zentrale Quellenbedeutung. Es
ist unter Geigern heute üblich, beim Studi-
um der Violinsonaten und -partiten auf das
Autograph zurückzugreifen, das in einem
neueren Faksimiledruck in originaler Größe
(Bärenreiter, Kassel) leicht erreichbar ist.
Sogleich zeigt sich aber auch die Notwendig-
keit der modernen Notenausgabe, denn
selbst diese fast kalligraphische Eigenschrift
Bachs enthält Undeutlichkeiten und sogar
Fehler. Dies betrifft vor allem die außerge-
wöhnlich reichhaltige und differenzierte Set-
zung der Bögen. Artikulation und Phrasie-
rung, im 18. Jahrhundert noch weitgehend
frei gehandhabt und im Notentext kaum ver-
bindlich vorgeschrieben, gewinnen bei Bach
und zumal in Ausnahmewerken wie den Vio-
linsoli wesentliche Bedeutung. Jedoch häu-
fen sich hier die Probleme. Selbst dem Ken-
ner der Bachschen Schreibgewohnheiten in
der Bogensetzung gelingt nicht immer die
zweifelsfreie Zuordnung der Bögen zu den
Noten. Die Bögen sind, obwohl durchweg
sauber geschrieben, gelegentlich in ihrer Be-
grenzung nicht eindeutig. Deshalb muss
weiteres Quellenmaterial zum Vergleich her-
angezogen werden.
Neben dem Autograph liegen Abschriften
vor, die sich in zwei Gruppen gliedern las-
sen. Die Mehrzahl der Abschriften ist unmit-
telbar oder mittelbar vom Autograph ab-
hängig, lediglich zwei Abschriften gehen
nicht auf das Autograph zurück und zeigen,
auf je eigene Weise, Spuren älterer Fassun-
gen des Werkes. Die abhängigen Abschriften
scheiden für eine Korrektur der fehlerhaf-
ten oder unglaubwürdigen Textstellen aus.
Offenbar wurde keine von ihnen unter
Bachs Aufsicht hergestellt, so dass sie nicht
zuverlässiger sein können als die Vorlage.
Auch Bachs Bearbeitungen für andere
Instrumente, die von der 2. Sonate und der
3. Partita sowie von weiteren Einzelsätzen
vorliegen, bieten, selbst soweit sie authen-
tisch und autograph überliefert sind (wie die
aus dem Preludio der E-dur Partita
umgearbeitete Orchester-Sinfonia zur Kan-
tate Nr. 29 mit obligater Orgel), nirgends
einen besseren Text. Somit kommen als Kor-
rektiv lediglich die beiden unabhängigen Ab-
schriften P 267 und P 804 in Frage (Staats-
bibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ber-
lin), die allerdings nicht ganz vollständig
sind. Mehrdeutige Bögen, deren Geltung
sich aus dem Schriftduktus des Autographs
oder aus dem musikalischen Textzusammen-
hang nicht zweifelsfrei klärt, lassen sich zum
großen Teil mit Hilfe der beiden Neben-

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